WERKVERTRAG
ÖNORM B 2110 UND OFFENSICHTLICHE BAUMÄNGEL
Punkt 10.6.2 der ÖNORM B 2110 lautet: „Übernimmt der AG die Leistung trotz Mängeln, bedeutet dies keinen Verzicht auf seine Gewährleistungsansprüche. Dies gilt aber nicht für nicht gerügte offensichtliche Mängel.“ Diese Bestimmung aus der Ausgabe 2013 der ÖNORM B 2110 blieb bei der Neuausgabe vom 1.5.2023 unverändert.
In der aktuellen Entscheidung 8 Ob 114/23g verweist der Oberste Gerichtshof darauf, dass für die Beurteilung, ob Mängel eines Werks offensichtlich sind oder nicht, der Zeitpunkt der Ablieferung maßgebend ist. „In die Augen fallende“ Mängel liegen regelmäßig nur dann vor, wenn sie auch ohne nähere Überprüfung nicht zu übersehen sind. Offensichtlichkeit ist aber nicht mit tatsächlichem Erkennen gleichzusetzen. Es kommt nach Ansicht des OGH somit nicht auf die subjektive Wahrnehmung des Bestellers an, weil eine solche Betrachtungsweise die strenge Kontroll- und Rügepflicht nach Punkt 10.6.2 der ÖNORM B 2110 praktisch gegenstandslos machen würde und dann auch bloßes sorgloses Übersehen später noch nachgeholt werden könnte.
Der OGH hat sich in dieser Entscheidung aber auch mit der Funktion der örtlichen Bauaufsicht (ÖBA) auseinandergesetzt und ausgesprochen, dass Tatsachen, die der ÖBA als Vertreterin der Bestellerin zur Kenntnis gelangt sind, diese sich wie eigenes Wissen zurechnen lassen muss, wenn die ÖBA, wie im vorliegenden Fall als „Bauherrenvertreterin“ namhaft gemacht wurde.
In dem vom OGH im Rahmen der Entscheidung zu prüfenden Sachverhalt war das Fehlen der Wärmedämmung für die örtliche Bauaufsicht erkennbar. Es wäre daher nach Ansicht des OGH ihre Sache gewesen, sich vom Abschluss der Verlegung der Dämmung zu überzeugen. Da die unterbliebene Dämmung im gegenständlichen Fall auch nicht in Rechnung gestellt wurde, wäre das Fehlen für die ÖBA daher auch bei der Prüfung der Schlussrechnung als Abweichung von den Positionen des Anbots erkennbar gewesen.
Interessant ist, dass der OGH die strengen Folgen des Punktes 10.6.2 der ÖNORM B 2110 auch eintreten lässt, wenn eine förmliche Übergabe trotz Aufforderung des Werkunternehmers nicht stattgefunden hat. Mit Verweis auf Punkt 10.2.2 der ÖNORM B 2110 gilt für den OGH die Übernahmefiktion selbst dann, wenn Mängel vorliegen, die den schweigenden Auftraggeber nach Punkt 10.5.1 der ÖNORM B 2110 berechtigen würden, die Übernahme zu verweigern, zumal er solche Mängel bei der Übernahme substantiieren müsste. Unterlässt er dies, treten nach Ansicht des OGH die Rechtsfolgen der Übernahme ein. Der Einwand des Bestellers, dass ihm eine Rüge bei einer nur fiktiven Übernahme nicht möglich gewesen wäre, überzeugte den OGH nicht, weil Mängel nach der ÖNORM B 2110 ohnehin grundsätzlich schriftlich bzw. niederschriftlich festzuhalten sind (s Punkt 11.2.3.1) und dies daher jederzeit hätte erfolgen können.
Für die Praxis zeigt diese Entscheidung, dass Mängel oder fehlende Leistungen jedenfalls dann als offensichtlicher Mangel iSd Punkt 10.6.2 ÖNORM B 2110 anzusehen sind, wenn diese für die örtliche Bauaufsicht bei gehöriger Aufmerksamkeit erkennbar gewesen wären. In diesen Fällen scheitert eine spätere Geltendmachung mangels fristgerechter Rüge.
Petra Rindler
Mai 2024
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